Sie sitzt, man kann aber nicht erkennen, ob auf einem Stuhl, einem Felsen oder auf welcher Sitzgelegenheit auch immer. Sie trägt lange Gewänder, die bis zum Boden reichen und die tiefe Faltenberge werfen und dadurch den Untergrund komplett verbergen. Selbst ihr Haupt ist bedeckt und verdeckt ihre Haare vollständig. Auch um ihren Hals trägt sie ein breites Tuch, sodass nur ihr Gesicht zu sehen ist. Sie blickt nach schräg oben. Auf ihren Knien liegt ein Mensch. Ein Mann mit Vollbart und langen Haaren, der nur mit einem weißen Tuch um seine Lenden herum bekleidet ist, der ansonsten völlig nackt ist. Er liegt auf seiner linken Körperseite seitlich auf seinem Oberkörper auf den Knien der Frau. Sein Kopf hängt seitlich zum Boden geneigt. Man sieht seinen Bauch und seine Brust die nach vorne zeigen. Sein linker Arm hängt nach unten fallend neben den Beinen der Frau, sodass seine Hand fast den Boden berührt. Sein rechter Arm liegt oben auf seinem Oberkörper auf seiner rechten Körperhälfte und bildet einen großen weichen Bogen, sodass seine rechte Hand auf dem Lendentuch ruht. Seine Füße befinden sich in einer Schrittposition und berühren den Boden, dabei sind seine Knie leicht angewinkelt. Die Frau stützt den Mann mit ihrer linken Hand unter der Schulter, die man deswegen nicht sehen kann. Ihre rechte Hand ruht auf dem rechten Oberschenkel des Mannes und berührt die seinige an den Fingerspitzen. Natürlich kann man noch mehr ins Detail gehen und erwähnen, dass der Mann scheinbar kollabiert oder tot zu sein scheint. Was verwundert, denn er sieht nicht krank aus. Eher gut gebaut, ganz leicht muskulös, ziemlich drahtig, vielleicht etwas dünn, fast etwas ausgezehrt, aber doch noch jung und irgendwie auch schön. Doch er hat Verletzungen, die man an seinen Händen und Füßen erkennen kann, die wie Löcher aussehen. Am Oberkörper, bei seinen Rippen hat er eine Wunde, aus der Blut fließt. Die Frau ist weder alt noch jung. Sie hat ebenmäßige, schöne Gesichtszüge. Nur ihr Gesichtsausdruck zeigt tiefes Unglück. Die beiden sind aus Holz und bemalt. Die Farben sind dezent und gar nicht grell. Die Haare des Mannes sind dunkelbraun. Das rot des Blutes, das aus seiner Wunde in der Rippe fließt, korrespondiert mit dem Rot des Brusttuches und der Ärmel der Frau. Der Schleier, der ihr über beide Schultern fällt, ist außen gold und innen bläulich…
Spätestens jetzt weiß nicht nur der regelmäßige Kirchgänger, dass es sich bei dieser Beschreibung um eine Pietá handelt. Pietà ist ein italienisches Wort für Frömmigkeit oder Mitleid. Der Ausdruck stammt aus dem lateinischen Ausdruck domina nostra de pietate „unsere Herrin vom Mitleid“. Das Bildnis zeigt Maria, die den toten und vom Kreuz herunter genommenen Jesus auf ihren Knien liegen hat. Die Pietá ist seit dem 14. Jahrhundert auch als Skulptur und nicht nur als Wandbild als Teil des Kreuzweges Jesu, fest in der Kirchenkunst vertreten. Zu den bekanntesten Bildwerken dieses Sujets zählt Michelangelos Pietà im Petersdom (Cappella della Pietà) aus Marmor. Diese eben beschriebene Holzskulptur befindet sich in der Bielefelder Jodokuskirche und wurde zwei Jahre lang jeden Donnerstag von Elisabeth Lasche und Bruno Büchel gezeichnet. Der Künstler, der diese Pietà erschaffen hat, ist leider unbekannt, ist aber westfälisch. Datiert wird sie so ca. 1700 und ist dem Spät-Barock zuzuordnen.
Warum also diese ausführliche Detailbeschreibung, wenn doch jeder weiß, wie so eine Pietà in der Regel aussieht? Ganz einfach deshalb, um zu zeigen, dass unsere Wahrnehmung eine symbolische Begriffsebene hat, sowie auch eine, tja wie soll man sie nennen, eine Ebene, auf der man ganz genau hinsehen muss, wo der Blick aufmerksam jedes kleine Detail abtastet. Dabei kann man nicht genau genug hinsehen, denn wie man an meiner Beschreibung, die natürlich scheitern muss, sehen kann, sieht man nie genug und nie genau genug hin. Es ist die Frage, ob man etwas mit so einer Beschreibung so genau mit Worten darstellen kann, dass ein Blinder das gleiche sieht wie der Sehende, der die Figur vor sich hat. Das Experiment muss natürlich scheitern, denn es würde Tage dauern, dem Blinden alle Details zu erzählen.
Aber etwas anderes passiert noch, wenn man sich so eine Skulptur einmal richtig anschaut. Denn der Mensch ist als Betrachter nicht nur ein lebendiger Fotoapparat, wobei sein Bildträger, weder ein lichtempfindlicher Film, noch eine Speicherkarte ist, sondern sein Gehirn, oder besser gesagt sein inneres Bild, das sein Gehirn daraufhin produziert. Und siehe einer an, dieses Bild ist nicht stabil. Es verändert sich, denn der Betrachter vergisst oder er konzentriert sich dann doch auf andere Details. Da stellt sich die Frage: Was ist unsere Wahrnehmung? Wie exakt kann sie sein?? Denn noch etwas anderes kommt hinzu: Der Betrachter denkt nach. Beim Betrachten eines Werkes kreisen die Gedanken. Sie werden ausgelöst (und im Besten Fall ist das so) von dem Bildnis. Das lenkt natürlich ungemein ab. Wenn man einen Gedanken hat, wie z.B. die arme Maria, wie traurig das sein muss, sein eigenes Kind begraben zu müssen, schon ist man davon abgelenkt beim Betrachten zu sehen wie die Linie, die das Bein des Mannes bildet, schräg zum Gewand der Frau verläuft und dass dies eine Dreiecksform bildet. Als Betrachter fühlt man sich dann wie ein Schulkind, das mal wieder im Unterricht nicht aufgepasst hat und dem wieder das Entscheidende entgangen ist, weil die Gedanken gewandert sind. Aber was ist das Entscheidende? Der Inhalt oder die Form?
Was ich hier beschreibe ist genau der Konflikt, den sowohl der Betrachter lösen muss, sowie auch unsere beiden Zeichner Elisabeth und Bruno. Wie haben sie ihn gelöst? Jeder tat dies auf seine Weise. Dazu muss man sagen, dass es ein absolut unmögliches Unterfangen ist, gänzlich ohne jedes Konzept an die Sache heranzugehen. Sie haben sich also vorher etwas überlegt auch wenn beide im Gespräch mit mir betont haben, dass sie an dieses Projekt völlig ergebnisoffen herangegangen sind.
Bruno ging es in erster Linie darum sein „Handwerk“ zu pflegen. Das „Zeichnen nach der Natur“ (in diesem Fall, der Skulptur) ist etwas, das man immer wieder tun muss. Man kann es auch verlernen, eine furchtbare Vorstellung, wenn man bereits ein gewisses Niveau erreicht hat. Dabei schult und schärft man den genauen Blick für Perspektive, Form und die genauen Verhältnisse der Proportionen. Jeder der schon mal so etwas versucht hat, weiß wie frustrierend es sein kann. Die Hand macht nicht was sie soll, oder man ist an einem Ende plötzlich zu groß oder zu klein geworden und schon stimmt nichts mehr. Hinzu kommt noch, dass man ja zeichnet und nicht fotografiert, das bedeutet, dass man nicht alles was sichtbar ist, zeichnen kann, denn dann würde es ewig dauern. Man muss also auswählen und entscheiden, was man darstellt und was man weglässt. Hinzu kommt noch das Werkzeug, das einem zur Verfügung steht. Ach ja das ewige Leid mit diesen Stiften, die ja immer nur Linien machen können. Was geschieht mit den Schattenflächen? Wie stellt man die denn da? Soll man den Aquarellkasten herausholen oder doch einfach schraffieren? Das Zeichnen ist für Bruno die Königsdisziplin in der Kunst. Sie ist ein äußerst mühevoller Prozess. Sie ist sehr Tagesformabhängig und erfordert eine sehr hohe Konzentration.
Elisabeth suchte etwas anderes. Anstelle von dem genauen Hinsehen der Formen, ging es ihr mehr um den Inhalt des Dargestellten und ihren persönlichen Standpunkt. Sie machte sich beim Zeichnen Gedanken um dieses Bild einer trauernden Mutter. Welche Verzweiflung darin liegt und wie man sie darstellen oder Umsetzen kann, etwas wofür bildnerische Lösungen gefunden werden mussten. Gedanken und Gefühle zuzulassen, die dieses Bildnis in ihr auslösen, sich dem Ganzen bewusst zu öffnen oder vielleicht auch zu schließen, waren ihr wichtig. Sich immer wieder auf eine neue Interpretation einzulassen und dabei auch mit den bildnerischen Mitteln zu spielen, die die Erkenntnisse visualisieren, war ihr ein Bedürfnis. Denn die eigenen Gefühle spiegeln sich in der Betrachtung wieder und finden so wiederum ihren Ausdruck auf der Zeichnung und sie sind durchaus nicht immer gleich, denn die Stimmungen des Betrachters variieren bei jedem Besuch. Elisabeth beschäftigt sich dabei auch um persönliche Themen und sucht die Verbindung, die sie mit ihren Erfahrungen hat, mit dem Ausdruck, den sie in der Madonna sieht. Dabei begegnen sich zwei Persönlichkeiten und es findet ein stummer Austausch statt. Die Kunst kann dann das Unsagbare in eine Bildersprache bringen, wo die Worte enden.
Natürlich darf man dabei den Ort nicht vergessen. Die Kirche. Zuerst war sie ein Zufluchtsort, weil es sich bei kaltem Wetter draußen nicht gut zeichnen lässt. Dann wurde sie fester Treffpunkt und die Pietà zu einem Dauerprojekt unserer beiden Künstler. Auch ich habe die Plastik besucht, sie eingehend betrachtet und versucht mich in die Situation hineinzuversetzen. In der Kirche ist es still, wenn man redet, ist es laut und im ganzen Gebäude zu hören. Man ist etwas abseits, doch trotzdem kommen immer wieder vereinzelt Leute vorbei. Die Lichtverhältnisse sind ziemlich dürftig. Die Plastik ist sehr extrem angestrahlt, sodass der Kopf Marias sehr hell ist, der Kopf Jesus dagegen aber sehr dunkel. Der Kontrastumfang ist anstrengend für die Augen und bei Jesus muss man schon genau hinsehen. Dazu ist steht das Ganze noch auf einem Sockel, das bedeutet ziemlich erhöht. Wenn man sich dann einen Hocker nimmt, dann sitzt man schon sehr tief und muss nach oben blicken. Dann ist man dabei auch zu Zweit. Sicher waren unsere beiden wöchentlichen Besucher immer friedlich zueinander, sicher haben sie sich weder gegenseitig eingeschüchtert noch zu sehr abgelenkt. Sicher ist es aber auch so, dass man sich gegenseitig gut motivieren kann und man „rafft sich leichter auf“, was ein ganz entscheidender Punkt ist. Aber leicht war das Ganze nicht. Es war eben, in meinen Augen, eine Herausforderung.
Bei meinem Gespräch mit beiden Künstlern zeigte sich, dass Bruno, in seiner Heimat in der Schweiz, durchaus vertraut war mit Kirchenbesuchen. Die Geschichten aus der Bibel sind ihm geläufig und die Themen auch in visueller Form gehören zu seiner kulturellen Prägung. Die Gesichter in der Kirchenkunst, die Schmerz darstellen, Hilfe suchen und Schicksalsergebenheit ausdrücken, sitzen tief in ihm drin, vielleicht kann ich sogar behaupten, so tief, dass er sich gar nicht mehr unbedingt auf einer bewussten Ebene damit befasst. Natürlich ist ihm klar, dass er dabei nicht einfach nur irgendeine Frau mit irgendeinem toten Mann auf den Knien zeichnet, aber so wichtig scheint es ihm nicht zu sein, jedenfalls war das mein Eindruck. Vielmehr wollte er die Gelegenheit nutzen, bei allem Respekt des gezeichneten Gegenstands gegenüber, dass er hier ein stets anwesendes Model vor sich hatte, dass sich garantiert nicht bewegen wird und wo er in aller Ruhe so lange menschliche Figuren zeichnen kann, wie er will, ohne dass man unterbrechen muss, weil das Model friert oder der Arm eingeschlafen ist. Bruno fragte sich aber in einem Kurztext, den er mir zu dem Projekt gegeben hat, was ihn eigentlich an diesem barocken Kunstwerk interessiert, der intensive Ausdruck von Schmerz, der Verlust oder die Hinnahme in das Schicksal? Ha also doch? Da war die Pietà anscheinend doch mehr als nur ein ewig stillhaltendes Model…Da passierte etwas in ihm. Mit der Zeit wurde aus dem Zeichnen eine Art Meditation, obwohl seine Skizzen eher kurz sind, so 5 bis 10 Stück fertigte er pro Besuch an, denn Geduld und Ausdauer gehören, wie er selbst über sich sagt, nicht zu seinen Stärken. Er „biss“ sich handwerklich intensiv in das Zeichen ein, fand immer besser seine Konzentration und konnte dadurch freier werden. Er wurde immer souveräner und spürte dabei, ab wann Müdigkeit einsetzt. Das ist der Vorteil des regelmäßigen Arbeitens. Man lernt sich selbst besser kennen und weiß, wie man funktioniert. Zusätzlich konnte er unendlich viel ausprobieren. Er hat unterschiedliche Zeichenmedien und Blickwinkel ausprobiert um zu sehen, wie eine optimale Aussage zu erreichen ist. Wie kann man die Wirkung steigern, die der unbekannte Künstler der Pietà erzielen wollte, ohne dass die Zeichnung zu einer Karikatur wird?
Elisabeth fragte sich, was ist schlimmer für eine Mutter, als ihr totes Kind betrauern zu müssen? Sie kann die Trauer und Verzweiflung in ihrem Blick nachvollziehen. Das bestätigt die Theorie, dass in der Kirchenkunst, ab dem 14. Jahrhundert, das Bestreben dominierte, die biblische Geschichte für die Gläubigen realitätsnäher und emotional erfassbarer zu machen. Das versuchte man zu verwirklichen indem man die Elemente aus der Bibelgeschichte isolierte, die mit den Schicksalen zu tun haben, die ganz normal sterbliche Menschen auch erleben und die emotional als besonders erschütternd wahrgenommen werden. In Holles Kunstgeschichte steht folgendes zu diesem Thema: “Nach den großangelegten Bildprogrammen im 12. Und 13. Jahrhundert setzt sich mit der Mystik ein neues Verhältnis zur bildhaften Vergegenwärtigung durch […]. Wesentlicher Inhalt der Mystik ist das Streben nach einem persönlichen Verhältnis zu Gott in ungestörter Betrachtung und einsamen, vertieftem Gebet. Die Wahrheit Gottes, so glaubt man jetzt, lässt sich nicht durch Aufzählungen von Tugenden, Allegorien, Jahresläufen, Gleichnissen usw.
beweisen, und dementsprechend finden die großen Bildzyklen keine Fortsetzung mehr. An ihre Stelle tritt das sogenannte Andachtsbild, das jetzt aus der Szene, zu der es ursprünglich gehörte, herausgelöst und einzeln dargestellt wird. So zeigt man den Gekreuzigten jetzt ohne Maria und Johannes, die Christus-Johannes-Gruppe ohne das Abendmahl, aus dem sie stammt […] und die Pietà ohne Kreuzabnahme und Grablegung. Diese Werke werden aber so dargestellt, dass sie eindringlich auf die Gefühle des Betrachters einwirken und sein Mitleid erwecken.“ Zitatende. Elisabeth hat mir in einer kurzen Stellungnahme geschrieben, dass ihr aber erst nach vielen Zeichenterminen eine religiöse Verklärung in Marias Blick aufgefallen war. Diesen Aspekt hatte sie erst gar nicht wahrgenommen und es ist ihr fast unangenehm. Das zeigt, dass sich der Blick ändern kann, selbst von vertrauten Dingen. Selbst wenn man denkt, dass man alles verstanden hat, passiert es einem plötzlich, dass man etwas erkennt, das man vorher nicht gesehen hat und das ist bestürzend. Das sind so kleine emotionale Schocks, die sensible Menschen erfahren und der Zugang, den Elisabeth zu dem Bildnis gefunden hat, zeigt welch große Qualität in der emotionalen Betrachtung liegt. Sie hat sich immer wieder vorbereitet vor den zeichnerischen Treffen, indem sie Collagen erarbeitet hat, an denen sie in der Kirche weiterarbeiten wollte. Sie hat aus Zeitschriften Ausschnitte herausgerissen und in ihr Skizzenbuch geklebt, Ausschnitte, in denen sie Marias Gesicht mit diesem Ausdruck von Verletztheit wiedergefunden hat. Auf diese Fotofragmente hat sie die Pietà oder nur die Köpfe der Pietà gezeichnet. Sie wechselte auch die Techniken, Formate und Farben und verwendete verschiedene Stilmittel. Sie hat Maria viele Male mit der linken, ihrer Schreibhand, und mit ihrer ungelenken, der rechten Hand gezeichnet. Mit Filzstift, Kuli, Bleistift, Kreide, Tusche. Marias Gesicht war ihr oft wichtiger als die ganze Figur. Sie versuchte nicht so wie Bruno die Plastik genau abzubilden, sondern es ging ihr darum, die Empfindungen, die sie beim Betrachten dieses Werkes hat, frei umzusetzen. Bei Elisabeth veränderte sich noch zusätzlich die Wahrnehmung, indem sie begann auch in anderen Kirchen nach Pietàs zu suchen und entdeckte dabei, wie unterschiedlich dieses Thema bearbeitet wurde. Das schärfte ihren Blick, gleichzeitig fing sie auch an, die Leute zu beobachten, wie sie vor den Figuren ausharren, eine Kerze anzünden und in ein stilles Gebet verfielen. Die Pietà schien ihnen als Spiegel zu dienen und gleichzeitig einen Platz zu bieten um ihre eigene Trauer dort abzulegen und sich davon zu befreien. Nicht immer gefielen ihr die „fremden“ Pietàs, doch die in der Jodokuskirche, ist zu der ihren geworden. Heute, sagt Elisabeth, findet sie beim Zeichnen in ihrem Gesicht eine Hinwendung zu Gott, ein sich Anlehnen an den da oben. Dadurch entfernt sie sich von ihr. Nicht für jeden ist dieser Weg offen. Sie scheint sich verbündet zu haben, auch wenn sie unsicher schaut. Elisabeth sagt, sie bleibt zurück und allein. Sie fühlt ihr Getrenntsein und fragt sich, was sie davon hat, sie immer wieder zu besuchen und zu zeichnen, wenn sie sich aus ihrer Intimität gelöst hat und sich da oben Hilfe holt. Aber sie ist eben eine alte Bekannte geworden.
Inzwischen sagen beide Künstler, dass sie die Pietà auswendig kennen. Geht das?? Auswendig von vorne, von rechts, von links? Von hinten geht ja nicht… Ist das menschliche Gehirn überhaupt dazu in der Lage? Was bedeutet das für das Sehen an sich, wenn man etwas ganz genau kennt und es unzählige Male intensiv angeschaut hat? Diese Frage kann man sicher nicht beantworten und Elisabeth und Bruno sind der Antwort sicher näher als die meisten von uns. Mein Eindruck ist, dass die beiden Künstler nun etwas Besonderes verbindet. Sie sind jetzt Komplizen. Nach getaner Arbeit gingen sie zusammen in das Cafe um die Ecke. Auch das gehörte zum wöchentlichen Ritual. Dort konnten sie dann endlich reden, was in der Kirche unangemessen und störend gewesen wäre. Sie konnten sich ihre Zeichnungen zeigen und darüber diskutieren. Sie konnten gemeinsam feststellen, ob es gerade ein guter oder schlechter Tag war. Vielleicht war es auch im Cafe wo ihnen bewusst wurde, dass sie die Pietà angeblich auswendig können, aber eigentlich haben sie etwas anderes erreicht. Sie haben sie verinnerlicht.