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Die Gottesmutter stützt den Leichnam ihres Sohnes auf ihren Beinen, nur eine Hand trägt den hängenden Oberkörper, der so zum Betrachtenden gedreht ist, als wolle er sich bereits aufrichten. Jesu Kopf hängt jedoch schlaff herunter. Sein Körper ist nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Marias linke Hand berührt seine Hand leicht. Diese zeigt noch ein Mal seiner Hinrichtung. Maria sitzt dabei aufrecht und wendet ihren Blick schräg nach oben. Was ist schlimmer für eine Mut- ter, als ihr totes Kind betrauern zu müssen? Die Trauer und Ver- zweiflung in ihrem Blick kann ich nachvollziehen. Erst nach vielen, vielen Zeichenterminen fiel mir zum ersten Mal eine religiöse Verklärung in Marias Blick auf. Diesen Aspekt hatte ich bis dahin nicht wahrgenommen. Er war mir fast unangenehm. Über eine lange Zeit sah ich nur ihre mütterliche Trauer, diesen Ausdruck konnte ich begreifen. Ich dachte unwillkürlich an die vielen toten Söhne und Töchter, Geflüchtete, die im Mittelmeer vermisst und ertrunken sind. Ich dachte an die vielen Mütter, die diese Kinder und Männer beweinen müssen. Die Angst vor dem Verlust und dann der Schock, wenn er Reali- tät geworden ist. Seit ich auf diese Skulptur aufmerksam wurde, suche ich sie auch in andern Kirchen. Ich bemerkte nun erst, wie unter­schiedlich dieses Thema bearbeitet wurde. 2016 fand ich im Frankfurter Kaiserdom St. Bartholomäus eine Pietà. Jesu Kopf liegt in Marias Arm. Sie beugt sich traurig über ihn. In Frankfurt wie auch in Bielefeld wird Maria in der Pietà als alte Frau dargestellt. Während des Zeichnens bemerkte ich, wie viele internationale Besucher und Besucherinnen bei ihr ausharrten, eine Kerze anzündeten oder ein stummes Gebet sprachen. Diese Figur schien ihnen als Spie- gel zu fungieren und zugleich einen guten Platz zu bieten, um die eigene Trauer dort abzulegen und sich davon zu befreien. In der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale entdeckte ich gleich zwei Pietàs, eine romantische, für meinen Geschmack kitschige Figur – sie ist eine Nachbildung der berühmten Pietà in Marmor von Michelangelo aus der Renaissance von 1499, die Maria als junge Frau zeigt. Ihr Körper ist überdimensional groß herausgearbeitet, um ihre Aufgabe nicht als große Last, sondern allein als Akt der Liebe darzustellen. Hier ist Maria keine trauernde Mutter, sondern eine Heilige in einem rauschenden Gewand mit vielen Falten. Mich sprach diese Version nicht sonderlich an. Dann stand da noch in einer Nische eine zweite Pietà. Sie ist eine aus Holz gearbeitete Schnitzgruppe aus der Zeit nach 1400 und gehört der Reihe der Schönen Vesper­bilder an. Unbeholfen liegt Jesus auf Marias Schoß, sein zu großer Kopf steht waagerecht in die Luft, als wenn er noch mithelfen müsste. Unsere Pietà in St. Jodokus in Bielefeld ist zu meiner geworden. Hier ist Jesus definitiv tot, aber man sieht ihm sein Leiden noch an. Eine Darstellung, die der Zeit seiner Entstehung geschuldet ist. Der besondere Platz in dieser schönen Kirche und die intime Beleuchtung lässt die Begegnung mit der Pietà zu einer Andacht werden. Heute finde ich beim Zeichnen in ihrem Gesicht eine Hinwendung zu Gott, ein sich Anlehnen an „den da oben”. Dadurch entfernt sie sich von mir. Nicht jedem von uns steht dieser Weg offen. Plötzlich scheint sie sich verbündet zu haben, auch wenn sie unsicher schaut. Ich bleibe zu- rück und allein und habe nur die Freiheit der Wahl, wie es Kierke- gaard ausdrückt. Ich fühle unser Getrenntsein. Ich frage mich natürlich, was habe ich davon, sie immer wieder zu besuchen und zu zeichnen, wenn sie sich aus unserer Intimität gelöst hat und sich da oben Hilfe holt? Aber sie ist nun eben eine alte Bekannte geworden. In ihrer Wohnung ist es dunkel und verschwiegen. Manchmal spielt jemand die Orgel. Bei diesem Stelldichein in der einen Zeichenstunde pro Woche mit Bruno Büchel begeg- ne ich ihr immer wieder anders und stelle fest, dass sie Gefühle ausdrückt, die ich schlecht aus- drücken kann, geschweige denn überhaupt spüre im Alltag. Ist sie wohl so vom Künstler gedacht? Mittlerweile kennen wir sie auswendig. Meine Zeichnungen haben sich verändert. Ich habe Maria viele Male mit der linken, meiner Schreibhand, und mit meiner ungelenken, der rechten Hand gezeichnet. Mit Filzstift, Kugelschreiber, Bleistift, Kreide, Tusche. Marias Gesicht war mir oft wichtiger als die ganze Figur. Ich habe aus Zeitschriften Ausschnitte herausgerissen und in mein Skizzenbuch geklebt; Ausschnitte, in denen ich ihr Gesicht mit diesem Ausdruck von Verletztheit wiedergefunden habe. Auf diese Fotofragmente habe ich die Pietà oder nur die Köpfe der Pietà danach gezeichnet. In der Kunstgeschichte hat sie ihren festen Platz bis heute be- hauptet. Erst neulich fand ich in einer Zeitung eine Abbildung von einer aktuellen Arbeit des Künst- lers Thomas Bayrles, der die Pietà aus vielen Minitotenköpfen auf ein großes Tuch gewebt hat. In der FAZ war zu lesen: Frankreichs Präsident Macron und Bundes- präsident Steinmeier übergeben Thomas Bayrles Kriegsgräber­- teppich Pietà for World War I der Öffentlichkeit. Diese Skulptur ist universal und vielfach behandelt. Aus welchem Motiv auch immer, einen Besuch in St. Jodokus in Bielefeld ist die Pietà allemal wert – auch ohne Zeichenstift. Danke Dir auch, lieber Bruno, für die gute Zusammenarbeit.

Elisabeth Lasche
Januar 2018